Dieser Frage, was wir also von der Psychologie für unsere tägliche Arbeit lernen können, ging der UX-Designer Jon Yablonski nach. Die Ergebnisse seiner Recherchen fasste er in seinem empfehlenswerten Buch "Laws of UX: 10 praktische Grundprinzipien für intuitives, menschenzentriertes UX-Design" zusammen, das viel Aufsehen erregte und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, unter anderem auch auf Deutsch.
In diesem Artikel geben wir euch einen kurzen Überblick, welche zehn Regeln für gute Apps und Websites Yablonski identifiziert hat – und welche psychologischen Phänomene und Gesetze dahinterstecken.
1. Was gut aussieht, wird besser bewertet.
Nutzertests haben ergeben, dass das Design von Nutzeroberflächen beeinflussen kann, als wie nützlich ein digitales Produkt empfunden wird: Je ansprechender das Design ist, desto positiver fallen die Urteile von Testpersonen hinsichtlich der Nützlichkeit aus und desto eher werden kleinere UX-Schwächen verziehen.
Herausgefunden haben diese Korrelation die japanischen Forscher Masaaki Kurosu und Kaori Kashimura in einer 1995 durchgeführten Studie mit über 250 Teilnehmenden. Für uns in der Produktentwicklung lassen sich darauf zwei Lehren ableiten:
- Wenn wir die Funktionalität eines Konzepts oder Prototypen testen wollen, kann es sinnvoll sein, zunächst auf ein ansprechendes Design zu verzichten, um UX-Schwächen besser aufdecken zu können.
- Im finalen Produkt hingegen sollten wir ein hochwertiges UI-Design als elementaren Bestandteil der User Experience verstehen und einsetzen.
2. Jede Millisekunde zählt.
Im Jahr 1982 fanden die US-Forscher Walter Doherty und Ahrvind Thadani heraus, dass Menschen die Interaktion mit Computern als angenehm empfinden, wenn Computer in weniger als 400 Millisekunden auf eine Aktion (z. B. den Klick auf einen Button) reagieren. Wenn es auch nur etwas länger dauert, wird dies bereits als störend empfunden. Seitdem ist dieses Phänomen als die “Doherty-Schwelle” bekannt.
Die Doherty-Schwelle ist ein Appell an uns, Apps und Websites schlank und ressourcenschonend zu konzipieren und zu entwickeln – und erwartbare Wartezeiten (z. B. beim Hochladen von Bildern und Videos) mitzudenken, zu konzipieren und zu gestalten, etwa durch hilfreiche und ansprechende Animationen.
3. Was hervorsticht, bleibt im Gedächtnis.
In einer Gedächtnisstudie beobachtete die deutsche Psychologin Hedwig von Restorff, dass Proband·innen, denen mehrere ähnlich aussehende Objekte gezeigt wurden, sich hinterher am besten an das Objekt erinnern konnten, das sich am meisten von den anderen unterschied.
Fürs UX-Design können wir diese Erkenntnis nutzen, indem wir wichtige bzw. besonders häufig benötigte UI-Elemente visuell hervorheben. Wichtig dabei ist, dass diese visuellen Hervorhebungen barrierefrei sind, also auch bei Sehschwächen funktionieren.
4. Je näher das Ziel, desto schneller der Schritt.
Zugegeben: Die hier zugrunde liegende Studie wurde mit Ratten durchgeführt, nicht Menschen. Damit wollte der Behaviorist Clark Hull den Goal-Gradient-Effekt belegen, der besagt, dass ein angestrebtes Ziel eine Sogwirkung erzeugt, die umso größer wird, je näher man dem Ziel kommt. In dem Versuch mit den Ratten liefen diese tatsächlich schneller, je kürzer die Entfernung zu ihrem Ziel (ein Futternapf) wurde.
Die Relevanz dieses Ergebnisses für den Menschen ist wissenschaftlich nicht hieb- und stichfest belegt – gestützt wird Hulls Hypothese aber von Studien aus dem Bereich “Gamification”, die zeigen, dass auch bei uns Menschen die Motivation für die Erreichung von Zielen steigt, wenn sie in greifbare Nähe rücken.
Im Web- und Software-Design wird diese Erkenntnis bereits vielfältig eingesetzt, etwa mit Fortschrittsbalken, die nachdem ersten Schritt eines längeren Prozesses einen Fortschritt von 20 % anzeigen und die Wegstrecke zum Ziel so deutlich kürzer erscheinen lassen. Einige Apps wie z. B. “Duolingo” setzen mehrere solcher Elemente gleichzeitig ein, um die Motivation ihrer Nutzer·innen hochzuhalten.
5. Die Qual der Wahl kostet Zeit.
Das geflügelte Wort von der “Qual der Wahl” beschreibt das Phänomen wunderbar, das die Psychologen William Edmund Hick und Ray Hyman nachweisen konnten: Sie fanden heraus, dass die Zeit, die man braucht, um sich zwischen mehreren Optionen zu entscheiden, sowohl mit der Anzahl als auch mit der Komplexität der Auswahlmöglichkeiten steigt.
Hick wurde daraufhin Namensgeber des Hickschen Gesetzes – und dies spielt bei der Konzeption digitaler Produkte eine große Rolle, da sich wichtige Empfehlungen daraus ableiten lassen:
- Weniger Auswahlmöglichkeiten fördern schnellere Entscheidungen.
- Hervorhebungen empfohlener Optionen helfen bei der Orientierung.
- Komplexe Aufgaben sind einfacher zu bewältigen, wenn sie in kleinere Einheiten aufgeteilt werden.
Ein Beispiel für den letzten Punkt ist die Onboarding-Strecke: Wenn Nutzer·innen eure Software oder App das erste Mal öffnen und ihr ihnen die wichtigsten Funktionen zeigt, empfiehlt es sich, dies erstens schrittweise zu tun und zweitens nicht zu viele Funktionen beim ersten Mal zu zeigen, damit die Neulinge sich nicht überfordert fühlen.
6. Die magische 7 des Kurzzeitgedächtnisses.
Der Psychologe George Miller fand heraus, dass Menschen gleichzeitig nur sieben Dinge im Kurzzeitgedächtnis speichern können (mit individuellen Abweichungen von zwei Dingen mehr oder weniger). Da diese Limitierung genetisch bedingt ist, kann sie auch nicht durch Gedächtnistraining vergrößert werden.
Diese Millersche Zahl wird im UI-Design oft zitiert, wenn es z. B. darum geht zu entscheiden, wie viele Einträge die Hauptnavigation haben darf: Hier gilt die Faustregel, nicht mehr als sieben Einträge zu platzieren. Allgemeiner formuliert ergibt sich aus der Erkenntnis von Miller, dass es Menschen hilft, wenn Informationen in kleineren, strukturierten Einheiten dargestellt werden.
7. Höhepunkte, Tiefpunkte und das Ende.
Wie wir etwas Erlebtes bewerten, ergibt sich nicht aus dem Mittelwert aller Gefühlslagen während dieses Erlebnisses, sondern stattdessen aus den intensivsten Erlebnissen (also Höhe- und / oder Tiefpunkten) und aus dem Ende. Das fand eine Forschergruppe 1993 bei einem Versuch heraus.
Für die Gestaltung digitaler Produkte bedeutet diese Erkenntnis: Wir können die Zufriedenheit von Nutzer·innen steigern, wenn wir ihre Erfolge feiern, ihre Fehlschläge verhindern oder zumindest abmildern und ihnen einen befriedigenden Abschluss bescheren.
8. Flexible Systeme sind robuster.
Diese Regel lässt sich gut am Beispiel eines Formularfeldes für eine Telefonnummer verstehen: Wenn dieses Feld so programmiert ist, dass es nur Ziffern akzeptiert, also keine Bindestriche, Klammern usw., ist die Wahrscheinlichkeit für fehlerhafte Eingaben höher, als wenn das Feld auch Sonderzeichen akzeptiert – und die Telefonnummer im Nachhinein intelligent nach einem definierten Schema anzeigt.
Dahinter steckt der Robustheitsgrundsatz vom Internet-Pionier Jonathan Postel, der besagt, dass Systeme dann besonders robust sind, wenn sie das Empfangen von Daten so flexibel und tolerant wie möglich verarbeiten, beim Senden von Daten jedoch streng den Regeln bzw. Erwartungen des Empfängers entsprechen.
9. Große und nahe Ziele sind einfacher zu treffen.
Bei einer Zielscheibe liegt es auf der Hand: Je näher wir ihr sind und je größer sie ist, desto leichter fällt es uns, sie zu treffen. Diese offensichtliche Korrelation von Größe und Distanz eines Ziels und der Wahrscheinlichkeit, es zu treffen bzw. zu erreichen, gilt jedoch auch für Nutzeroberflächen.
Das Phänomen wurde zuerst von Paul Fitts beschrieben und ist deshalb als Fitts Gesetz bekannt. Es ist fürs UI-Design deshalb von Bedeutung, weil es z. B. für mobile Apps bedeutet, dass Elemente wie Buttons groß genug sein müssen, um sie einfach und sicher mit einem Finger berühren zu können, und weit genug entfernt von anderen Elementen, um versehentliche Eingaben zu verhindern.
Der Begriff “Ziel” kann hier jedoch noch weiter gefasst werden: Wenn man z. B. nach einer Aktion eine Erfolgsmeldung erwartet und dies das nächste Ziel ist, sollte sie erstens groß genug sein, um bemerkt werden zu können – und auch möglichst nah an der zuletzt ausgeführten Aktion platziert werden.
10. Bekanntes wird bevorzugt.
Vater dieser Regel ist die dänische UX-Koryphäe Jakob Nielsen, der in zahlreichen Nutzertests immer wieder belegen konnte, das gelernte Standards Nutzer·innen helfen, sich auch in neuen Umgebungen schnell zurechtzufinden.
Es geht also darum, sich das Vorwissen von Menschen zunutze zu machen, um die eigenen digitalen Produkte so nutzerfreundlich wie möglich zu machen. Wenn also verbreitete Elemente wie Buttons, Dropdown-Menüs und Registerkarten so ähnlich aussehen und sich auch so verhalten wie anderswo, können Interfaces schnell verstanden werden. Ähnliches gilt auch für Begriffe und Symbole: Die Lupe für die Suche, das Zahnrad für Einstellungen usw.
Gleichzeitig legt diese Regel auch nahe, umfassende Design-Änderungen so vorzunehmen, dass Nutzer·innen die Chance bekommen, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen und sie zu erlernen – entweder, indem Änderungen schrittweise vorgenommen werden, oder, indem es eine Übergangsphase gibt, in der man zwischen altem und neuem Design hin- und herwechseln kann.
Soweit unser kurzer Überblick der UX-Regeln, die Jon Yablonski auf der Grundlage psychologischer Erkenntnisse aufgestellt hat. Sie sind eine gute Richtschnur für die Gestaltung von Nutzeroberflächen, die einfach und angenehm zu bedienen sind.
Weitere Infos, Beispiele und auch ein paar Zusatzregeln findet ihr auf der Website Laws of UX – schaut dort gerne einmal rein, wenn ihr euer Wissen dazu vertiefen wollt.
Übrigens: Falls ihr gerne lernen möchtet, wie ihr herausfindet, was eure Nutzer·innen über eure Software, App oder Website denken und was sie sich von ihr wünschen, kommt gern zu uns ins Online-Training für Nutzerforschung: Alle Infos zum Online-Training