Tradition und Moderne
Historisch gesehen war Design schon immer eine Bastion der Kreativität, ein Bereich also, in dem Intuition an erster Stelle stand: Designer·innen mit ihrem einzigartigen Verständnis von Ästhetik und Form waren stolz darauf, Produkte zu entwerfen, die gestalterisch neue Wege gingen. Das digitale Zeitalter brachte jedoch den neuen Bereich “UX” hervor, der Nutzerbedürfnisse in den Vordergrund stellte – und gleichzeitig waren plötzlich unzählige Daten vorhanden, die Einblicke in das Verhalten von Nutzer·innen, ihre Vorlieben und sogar ihre unausgesprochenen Bedürfnisse boten. Diese beiden Umstände führten zum Konzept des "datengesteuerten Designs", bei dem Entscheidungen auf handfesten Nutzerdaten beruhen und nicht auf Intuition oder gar auf Meinungen.
Herausfinden statt herumraten
Ein Grundprinzip des modernen UX-Designs ist die Einsicht, dass wir nicht von vornherein wissen können, wie unsere Nutzer·innen ticken: Als Design-Profis bringen wir zwar Fachwissen und Kreativität mit, aber keine Erkenntnisse über die Nutzer·innen. Annahmen, auch wenn sie auf Erfahrung und Vorwissen aufbauen, können falsch sein und zu Fehlentscheidungen führen. An dieser Stelle werden Daten von unschätzbarem Wert: Sie bieten einen Realitätscheck, der Vorurteilen entgegenwirkt und die Realität der Nutzer zum Vorschein bringt. Somit kann jede Design-Entscheidung, von der Farbpalette bis zur Typografie, anhand von Metriken validiert werden, um ein konsequent nutzerzentriertes Produkterlebnis zu gewährleisten.
Licht und Schatten
Daten haben sich auch in der Wirtschaft zum Goldstandard unter den Rohstoffen entwickelt: Viele Unternehmen nutzen zunehmend Daten zur Vorhersage des Kundenverhaltens, um ihre Marketing- und Verkaufsstrategien gezielter und effektiver zu gestalten. Ein berühmtes Beispiel ist die Einkaufszentrums-Kette Target: Anhand der Analyse des Kaufverhaltens seiner Kunden konnte Target z. B. bereits vor zehn Jahren erkennen, ob eine Kundin schwanger war – und ihr entsprechend personalisiert Werbung anzeigen. Plattformen wie Netflix und Amazon setzen ähnliche Algorithmen und datengesteuerte Methoden ein, um personalisierte Empfehlungen zu generieren und so die Kundenzufriedenheit – und damit einhergehend die Kundenbindung – zu stärken. Im digitalen Zeitalter, in dem die Loyalität von Kund·innen stark abgenommen hat, ist ein umfassendes Verständnis von Daten für den dauerhaften Erfolg vieler Unternehmen also von größter Bedeutung.
Leider bieten die genannten Möglichkeiten den Unternehmen auch die Möglichkeit, das Nutzerverhalten in unangemessener Weise zu beeinflussen und Daten ausschließlich zur Steigerung ihrer Gewinne zu nutzen – und zwar unter Missachtung der Kundenbedürfnisse. Auf diese ethischen Aspekte der datengesteuerten UX gehen wir am Ende dieses Artikels ein.
KI und Hyper-Personalisierung
Seit den Fortschritten in den Bereichen KI und maschinellem Lernen definiert das Konzept der “Hyper-Personalisierung” im UX-Bereich die Grenzen der Nutzererfahrung neu: Mittlerweile können maßgeschneiderte Vorschläge generiert werden, die Nutzerbedürfnisse und -wünsche so gut voraussagen, dass es einem vorkommen kann, das System können Gedanken lesen. Während nämlich herkömmliche Personalisierungsmethoden frühere Verhaltensmuster als Basis für personalisierte Inhalte und Vorschläge nutzte, geht die Hyper-Personalisierung tiefer und versteht unseren aktuellen Kontext und unsere Stimmung. Im Zentrum dieser Revolution steht die prädiktive KI, die riesige Datensätze durchforstet, um unsere Präferenzen im Voraus zu erkennen – und unsere Wünsche und Bedürfnisse in Echtzeit zu bestimmen.KI macht sich riesige Datenmengen zunutze, um eine Hyper-Personalisierung zu erreichen und die Nutzererfahrungen mit einer bisher unvorstellbaren Genauigkeit anzupassen. Im Gegensatz zu Prototypentests, die auf vordefinierten Szenarien und Nutzerfeedback beruhen, entwickelt sich diese Echtzeit-Personalisierung mit jeder Interaktion weiter. Dieser dynamische Ansatz passt sich an das unmittelbare Verhalten und die Vorlieben der Nutzer·innen an und bietet so ein kontinuierlich optimiertes und individualisiertes Nutzererlebnis.
Der Mix macht's
Designer·innen steht heute eine Fülle von Datentypen zur Verfügung. Quantitative Daten mit ihrem numerischen Fokus bieten harte Fakten: Tools wie Google Analytics geben Aufschluss über Kennzahlen wie Absprungraten, Konversionsraten und User-Journey-Pfade. Qualitative Daten hingegen erlauben einen Einblick in die Gefühle, Überzeugungen und Empfindungen der Nutzer·innen. Techniken wie Tiefen-Interviews und Prototypen-Tests eröffnen ein differenziertes Verständnis der Zielgruppe und fördern oft essenzielle Erkenntnisse zutage, die Zahlen allein nicht offenbaren können.
Daten richtig verstehen
Was geschieht nach der Datenerhebung? Die Daten müssen sorgfältig analysiert und richtig interpretiert werden. Denn Daten an sich sind neutral und machen keine Aussage, die sich für Design-Entscheidungen nutzen ließe. Und hier liegt die große Gefahr des datengestützten Designs: Es kann sehr schnell den Anschein eines wissenschaftlich fundierten, evidenzbasierten Ansatzes vorgaukeln, obwohl die Entscheidungsträger·innen die erhobenen Daten nach ihren vorgefassten Überzeugungen und Annahmen interpretiert haben. Eine professionelle Aufbereitung und Evaluation der Daten – unabhängig davon, ob es qualitativ oder quantitativ erhobene Daten sind – ist daher ebenso wichtig wie das Niveau der Datenerhebung selbst.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
Die zyklische Natur des modernen UX-Designs sorgt auch bei der datengesteuerten UX für ständige Verbesserungen: Designer·innen sammeln Daten, analysieren sie, treffen fundierte Entscheidungen, testen diese Entscheidungen und holen dabei weitere Daten ein. Methoden wie A/B-Tests machen es zudem möglich, verschiedene Design-Varianten zu vergleichen und so auf das beste Nutzererlebnis hin zu optimieren.
Daten als Argumentationshilfe
Einer der unterschätzten Vorteile von datengestütztem Design liegt in dessen Funktion bei Gesprächen mit unterschiedlichen Interessengruppen. Wenn ihr eure Design-Entscheidungen mit Metriken untermauert, verleiht dies euren Entscheidungen mehr Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit. Ihr sagt dann eben nicht mehr "Ich habe das Gefühl, dass …", sondern "Die Daten sprechen dafür, dass …". Dies wird es euch erleichtern, Unterstützung für eure Design-Ideen und -Entscheidungen zu bekommen.
Eine gesunde Balance
Bei aller Begeisterung für die Verwendung von Daten gilt: Sie sind kein Allheilmittel. Sie sind vielmehr ein nützliches Werkzeug, und zwar eines von vielen im Arsenal von UX-Profis. Ein Design, das sich nur auf Daten stützt, kann seine emotionale Tiefe verlieren und eventuell keine Freude und Begeisterung auslösen. Die wahre Essenz guten UX-Designs liegt darin, das richtige Gleichgewicht zu finden: Daten als Entscheidungsgrundlage zu nutzen und gleichzeitig Raum für Kreativität, Innovation und das gewisse Etwas zu lassen, das nur ein Mensch mitbringen kann.
Das Ziel fest im Blick
Da sich die Bereiche des Produkt- und UX-Designs weiterentwickeln, werden sich auch die Methoden, Tools und Frameworks, die mit datengesteuertem Design in Verbindung stehen, zweifellos anpassen. Das Kernprinzip muss jedoch unverändert bleiben: die Erstellung von Designs, die auf die Bedürfnisse, Vorlieben und Verhaltensweisen der Benutzer·innen ausgerichtet sind.
Unsere Rolle als Wollmilchsäue
Bei der Navigation durch diese Landschaft müssen wir als UX-Profis mehrere Hüte tragen: Wir müssen müssen kluge Forscher·innen, scharfe Analytiker·innen, einfühlsame Zuhörer·innen und kreative Visionäre sein. Jedes Projekt wird seine eigenen Herausforderungen und Anforderungen haben. Manchmal sind die Erkenntnisse aus qualitativen Daten aufschlussreicher, während in anderen Fällen quantitative Daten die nötige Klarheit bieten.
Daten klug einsetzen
Im Bereich des UX-Designs und der digitalen Strategie kann die Verlockung einer umfangreichen Datenerfassung manchmal das eigentliche Ziel überschatten: die Gewinnung aussagekräftiger Erkenntnisse. Auch wenn das Sammeln umfangreicher Daten eine gute Idee zu sein scheint, kann es zu einer Flut von Informationen führen, die schwer zu verwalten und zu analysieren ist, so dass es schwierig wird, wertvolle Erkenntnisse von überflüssigem "Rauschen" zu unterscheiden. Dieser Überschuss, der oft als "Abfall" oder "steife Daten" bezeichnet wird, erschwert nicht nur den Analyseprozess, sondern kann auch aufgrund von Faktoren wie der sich verändernden Wirtschaftslandschaft, der Entwicklung persönlicher Vorlieben oder der sich ändernden technologischen Fähigkeiten der Nutzer·innen schnell an Nutzen verlieren. Daher ist es ratsam, bei der Datenerhebung präzise vorzugehen und auf Relevanz und Aktualität zu setzen, um verwertbare und aussagekräftige Nutzererkenntnisse zu gewinnen.
Datenschutz ist Grundrecht
Am wichtigsten ist jedoch, dass wir die Privatsphäre unserer Nutzer·innen ernst nehmen und nur die Daten sammeln, die wir wirklich benötigen, um die Nutzererfahrung zu verbessern. Und damit kommen wir zu unserem letzten, aber – zumindest unserer Meinung nach – wichtigsten Aspekt, wenn es um datengesteuertes Design geht - oder um UX-Design überhaupt:
Eine Frage des Gewissens
Mit großer Macht kommt große Verantwortung. Die Möglichkeit, riesige Mengen an Nutzerdaten zu sammeln und sie zu missbrauchen, um Menschen zu manipulieren, ist real und wird zum Erreichen wirtschaftlicher Interessen von vielen Firmen skrupellos benutzt – wenn oft auch subtil, z. B. durch hyper-personalisierte Werbung, die Menschen zu Kaufentscheidungen überzeugt, die sie sonst nicht getroffen hätten. Manche negative Folgen von Personalisierung sind auch kein böser Vorsatz, sondern unbeabsichtigte Nebenwirkungen von wirtschaftlich getriebenen Zielen: So haben etwa die Algorithmen von YouTube, Instagram usw. das Ziel, dass Nutzer·innen möglichst viele Videos und Beiträge konsumieren, damit die Werbe-Einnahmen steigen. Dass dadurch Echokammern entstehen und Menschen in ihrer Meinungsbildung immer einseitiger beeinflusst werden, war und ist die Folge. Unser Job als UX-Profis ist es, solche Nebenwirkungen zu antizipieren und zu vermeiden – und, falls sie doch auftreten, Gegenmittel zu entwickeln.