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Vision Pro: Beginn einer neuen Ära?

Von Apple ist man es gewohnt, dass sie nicht zu den Ersten gehören, die eine neue Hardware-Kategorie herausbringen, dafür aber immer wieder diejenigen sind, die solch neue Kategorien vom Nischen- zum Massenprodukt machen. So war's schon mit dem iPhone, dem iPad und der Apple Watch. Wird auch die Vision Pro eine neue Ära einläuten?
Stilisiertes Bild der VR-Brille "Vision Pro" von Apple

Die Zeit scheint reif dafür zu sein, dass wir uns endlich von den Fesseln befreien, die uns jahrzehntelang vor physische Bildschirme gebunden haben: Eine Zukunft scheint – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Greifen nah, in der diese Bildschirme virtuell sind, beliebig anpassbar, beliebig multiplizierbar, je nach Anwendungskontext und individuellen Vorlieben, frei von den Beschränkungen der physischen Umgebung und ohne irgendwelche Zusatzkosten. Daher verwundert es nicht, dass die Aufregung im vergangenen Sommer bei Apples Konferenz “WWDC 2023” riesig war: Die flimmernde Atmosphäre einer historischen Enthüllung lag in der Luft. Und Apple lieferte ab: Die Vision Pro schickt sich an, die Kategorie der VR- und AR-Brillen neu aufzumischen, mit ausgeklügelten Funkionen und neuen Qualitätsstandards.

Nachdem es in den Folgemonaten etwas ruhiger um die Vision Pro geworden war – viele Neuigkeiten drangen dank der notorischen Geheimniskrämerei von Apple nicht an die Öffentlichkeit – nimmt die Berichterstattung nun seit der Auslieferung der ersten Geräte wieder an Fahrt auf. Ein idealer Zeitpunkt, um sich jenseits des Hypes einmal zu fragen: Was bringt dieses Gerät eigentlich? Und für wen lohnt sich diese Investition von happigen 3.500 US-Dollar?


Aufbruch zu neuen Welten

Mit räumlichen Interfaces betreten wir relativ neues Terrain, und zwar ein Terrain, bei dem die physische und die virtuelle Welt miteinander verschmelzen und im Zweifel nicht mehr erkennbar ist, was wirklich da ist und was bloß simuliert wird. Die ersten Bedienoberflächen für herkömmliche Apps und Programme sehen dabei noch genauso aus als wie vorher, nur dass sie jetzt mitten in der Luft zu hängen scheinen: platte 2D-Oberflächen mit vertrauten Bedienelementen.

Es ist jedoch absehbar, dass es immer mehr innovative UI-Lösungen geben wird, welche sich die neu gewonnene Dreidimensionalität zunutze machen, um neuartige Nutzererlebnisse zu schaffen. Apples Einführungen zum Thema “Spatial design principles” bei der WWDC enthielten bereits einige Anregungen, wie man Räumlichkeit sinnvoll einsetzen und “immersive Erlebnisse” schaffen kann, in denen man also komplett in die virtuelle Welt der App eintaucht.

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Bildrechte: Apple

Die Mischung aus Vertrautem und Neuem

Dass viele der Apps für die Vision Pro – inklusive der Apps von Apple selbst – sich zu Beginn kaum von ihren PC-Versionen unterscheiden, liegt nicht nur an fehlendem Einfallsreichtum oder Innovationswillen seitens der Software-Anbieter: Dahinter steckt auch eine bewusste Entscheidung, uns den Einstieg in diese neue Welt zu erleichtern, indem man uns hier auf Bekanntes und Vertrautes treffen lässt: Dadurch fühlen wir uns schneller wohl in diesem ungewohnten Umfeld und verlieren schneller die eigenen Hemmungen und Berührungsängste. Wären das Betriebssystem (”VisionOS”) und alle Apps dagegen bereits schon dreidimensional angelegt und würden komplett neue Bedien- und Interaktionsformen erfordern, wären die Meisten von uns schnell überfordert … und die Vision Pro bliebe, wie ihre Vorgänger, ein Nischenprodukt.

Deshalb lag der Augenmerk von Apples Design-Team vor allem darauf, vertraute Elemente so für die neue Umgebung anzupassen, dass sie dort genauso gut funktionieren wie in der alten: Die Typographie wurde für bessere Lesbarkeit optimiert, Hervorhebungen der mit den Augen fokussierten Elemente geschaffen, um zu verdeutlichen, was ausgewählt werden kann, sowie subtile 3D-Effekte hinzugefügt, die Hierarchien verdeutlichen und die Orientierung erleichtern.


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Bildrechte: Apple


Pionier “IKEA Place”: Räumliches Interface-Design für echte Bereicherungen

Wegbereiter für die Massentauglichkeit von AR war tatsächlich IKEA. Zugegeben: Bei IKEA lag es irgendwie auf der Hand, eine AR-App zu entwickeln. Immerhin verkauft IKEA Einrichtungsgegenstände – und wenn man diese in den eigenen vier Wänden simulieren kann, ist das eine echte Bereicherung des Einkaufserlebnisses. Das soll jedoch die Genialität und den Mut nicht schmälern, den IKEA bewies, als das Möbelhaus 2017, also vor über sechs Jahren, eine der ersten ausgereiften AR-Apps herausbrachte. Dabei bediente sich IKEA vieler der Design-Prinzipien, von denen sich jetzt auch Apple bei der Entwicklung des VisionOS hat leiten lassen:

  • Vertrautheit: IKEA setzt auf die vertraute Designsprache, die Menschen bereits aus den Katalogen und der Website kennen, sodass Nutzer·innen von Beginn an keine Berührungsängste haben.
  • Räumlichkeit: Die App macht es einfach, Möbel und andere Gegenstände auszuwählen und an einen gewünschten Ort zu platzieren.
  • Unverfälschtheit: Die 3D-Modelle der Objekte sind so hochauflösend, dass sie sich fast nahtlos in die physische Welt einbetten lassen und tatsächlich bei der Kaufentscheidung helfen, weil man wirklich im Voraus sieht, wie z. B. die neue Couch im eigenen Wohnzimmer wirken würde.
  • Intuitive Bedienung: Weil bei räumlichen Apps eine Dimension hinzukommt, ist das Navigieren innerhalb dieses Raums oft eine Herausforderung. IKEA hat es geschafft, das Hin- und Herbewegen von Objekten erstaunlich einfach zu machen.
Bildrechte: IKEA


Vision Pro für uns Normalsterbliche: mehr als ein teures Spielzeug?

Apple selbst hat ein paar Szenarien geliefert, bei denen die Vision Pro als Freizeitgerät eine neue Qualität von Erlebnissen bieten kann – und einige weitere werden bestimmt nicht lange auf sich warten lassen:

  • Filme und Serien: Hier kann die Vision Pro das Heimkino ersetzen und eine echte – praktisch beliebig große, auch das gesamte Sichtfeld einnehmende – Leinwand simulieren. Gepaart mit dem integrierten 3D-Sound entsteht so ein unvergleichliches Kinoerlebnis … mit einer wichtigen Einschränkung: Es ist ein einsames Erlebnis, das sich nicht als Date eignet.
  • Spiele: Auch für Gamer ist die Vision Pro attraktiv, weil sie dank ihrer hochauflösenden Bildschirme besonders scharfe Bilder liefert. Ob das Spielerlebnis allerdings so viel besser ist als bei den VR-Brillen der Konkurrenz, um den astronomischen Preis zu rechtfertigen, wird sich zeigen.
  • Unterhaltung: Live-Konzerte, Musicals und Theaterstücke, die sich anfühlen, als wäre man wirklich dabei: Auch dies ist längst kein Science Fiction mehr.
  • Fitness: Eine persönliche Fitness-Trainerin, die gefühlt im eigenen Wohnzimmer steht? Ein Yoga-Coach, der direkt vor einem auf der Matte sitzt? Das sind Szenarien, die sehr attraktiv sind und die Motivation für regelmäßige Übungen hochhalten können. Die Frage ist nur, wie gut es sich trainieren lässt, wenn man dabei eine überdimensionierte Skibrille auf dem Kopf trägt.
  • Einkaufen: Was IKEA mit “Places” vorgemacht hat, kann durch virtuelle Welten auf eine neue Stufe gehoben werden: Der Gang durch virtuelle Läden wird ebenso möglich wie das Ausprobieren von Kleidungsstücken vor dem virtuellen Spiegel.
  • Immobilien: Vielleicht ist es bald vorbei mit umständlichen Wohnungs- und Hausbesichtigungen, wenn diese komplett virtuell gemacht werden können. Die Frage ist nur, ob man der virtuellen Welt trauen kann und Mängel nicht vorher wegretuschiert wurden.
  • Reisen: Egal ob bei der Recherche nach dem nächsten Urlaubsziel oder der Auswahl der richtigen Unterkunft: Virtuelle Welten werden es uns in Zukunft ermöglichen, schon vorher einen Abstecher zu potenziellen Reisezielen zu unternehmen und uns dort umzuschauen.

Trotz all dieser Szenarien wird der hohe Preis die meisten Menschen jedoch davon abhalten, sich eine Vision Pro nur fürs Privatvergnügen zuzulegen. Und wenn man Business-Insidern glauben darf, erwartet Apple auch keine hohen Verkaufszahlen im Privatkundenbereich für diese erste Version und plant stattdessen erschwinglichere Modelle (dann wahrscheinlich ohne das “Pro” im Namen) für die kommenden Jahre.

Apple previews new entertainment experiences launching with Apple Vision Pro  - Apple
Bildrechte: Apple


Vision Pro für die Arbeit: Wo die VR-Brille eine sinnvolle Investition ist

Auch wenn Apple bei seinen Präsentationen bisher überwiegend private Szenarien wie das Heimkino gezeigt hat, besteht die Zielgruppe zu Beginn sicherlich hauptsächlich aus zahlungskräftigen Profis unterschiedlicher Disziplinen, für die die Vision Pro das Geld wert ist:

  • Kreativbranche: Wer im Videoschnitt oder im Design arbeitet und für produktive Arbeit mehrere hochwertige (und meist sehr teure) Bildschirme benötigt, für den kann die Vision Pro attraktiv sein, weil sie hier große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bietet – und weil sie, anders als z. B. drei große Bildschirme, überallhin mitgenommen werden kann.
  • Architektur, Ingenieurwesen, Produktentwicklung: Bei der Konzeption neuer Gebäude und Brücken oder auch Fahrzeuge, Maschinen und Gebrauchsgegenstände kann die Kollaboration innerhalb einer dreidimensionalen Umgeben unglaublich hilfreich sein und es Teams erleichtern, gemeinsam Projekte zu entwickeln und zu evaluieren.
  • Training und Weiterbildung: Als Alternative für Vor-Ort-Trainings, z. B. für die Bedienung komplexer Maschinen, kann die Vision Pro den hohen Preis rechtfertigen, weil Kosten für die Anfahrt und ggf. Übernachtung der Coaches eingespart werden können.
  • Grenzüberschreitende Kollaboration: In manchen Fällen, besonders auf Management-Ebene, wird die Vision Pro sicherlich eingesetzt, um sich realitätsnah in virtuellen Räumen zu treffen. Fachleute, z. B. aus der Chemie, könnten sich in virtuellen Laboren treffen, um gemeinsam Experimente durchzuführen.
  • Gesundheitsbranche: Sowohl bei der Ausbildung von medizinischem Personal als auch bei der Begleitung von Operationen und bei Ferndiagnosen könnten VR-Brillen wie die Vision Pro schon bald eine signifikante Rolle spielen.
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Bildrechte: Apple

Vermutlich werden diese arbeitsbezogenen Anwendungsfälle den Großteil der ersten Vision-Pro-Käufe ausmachen, weil man hier den Anschaffungspreis am ehesten rechtfertigen und amortisieren kann. Und damit wiederholt sich hier ein bekanntes Muster: Auch das iPhone schlug bei seiner Einführung 2007 zwar hohe Wellen, wurde aber von Normalsterblichen als unbezahlbar betrachtet, insbesondere im Vergleich zu den Angeboten der Konkurrenz. Als Arbeitsgerät hingegen war der Preis vertretbar.

Sind wir hier nun also Zeugen des Beginns einer neuen Ära? Zu diesem Zeitpunkt kann dies noch nicht bejaht oder verneint werden. Eines aber scheint sicher: Der Verkaufsstart am 2. Februar eröffnet ein neues Kapitel im Bereich AR und VR. Es ist ein Startschuss für das Rennen um die Massentauglichkeit virtueller Welten sowie ein Weckruf für die Konkurrenz. Und die schläft bekanntlich ja nicht.

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